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Erdachse

Timm Ulrichs

Entstehungsjahr:1999

Material: Granit, Kunststein, Glas, Stahl

Standort: Willy-Brandt-Platz

Auch am Anfang der künstlerischen Karriere von Timm Ulrichs stand das, was man gemeinhin als spektakuläre Aktion bezeichnet. Abgesehen vom Getöse aber, das sich darum entwickelte, zeichnete sich seine Selbstausstellung als erstes lebendes Kunstwerk auf der Juryfreien Kunstausstellung Berlin 1965 nicht nur durch eine große Ökonomie der Mittel, sondern auch durch eine geradezu asketische Stille aus, ganz so wie die alltägliche und unmerkliche Drehung der unsichtbar gelagerten Erdachse vor dem Magdeburger Hauptbahnhof um sich selbst. (Wer will, kann dank einer im Boden eingelassenen und in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten Edelstahlschiene sogar die Zeit daran ablesen.) Ihre Länge misst nur ein Millionstel des Poldurchmessers der Erde selbst, wobei zirka drei Achtel davon in einer unter den Bodenplatten befindlichen Kammer im Magdeburger Erdreich verschwinden. Am Boden dieser Kammer ist der aus Magmagestein plutonischen Ursprungs bestehende Zylinder gelagert und von dieser Kammer aus wird er durch einen funkuhrgesteuerten Elektromotor angetrieben.

Erstaunlich ist, wie sehr sich die öffentliche Wahrnehmung der Arbeit immer wieder auf diese technischen Fakten kapriziert. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang selbstverständlich, dass die Neigung des Magdeburger Objekts dem der Erdachse entspricht. Auch die korrekte Entfernung ist bekannt. Es hat seine Neigung also quasi einer imaginären Parallelverschiebung zu verdanken, was logischerweise auch die den Äquatorring markierende Scheibe betrifft.

Es ist diese Scheibe, die beim nicht unterrichteten Betrachter zunächst und ganz richtig die Assoziation eines riesigen Kreisels hervorruft. Das Projekt, das auf das Jahr 1979 zurück geht, ist von Timm Ulrichs selbst als „Monument in Kreisel-Form“ beschrieben und, wohlgemerkt, als „Denkmal für die Erdachse (M. 1:1.000.000)“ betitelt worden. Soll es also eine freilich sehr nüchterne, ernüchternde Erinnerung an die Zukunft sein, an eine Zeit, in der die Erde, der Kreisel Gottes, sich nicht mehr drehen wird? „Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!“ Mit dieser Inschrift hatte Ulrichs sich 1969 selbst einen Grabstein gesetzt. Das ist nicht nur Sprachspiel, Eulenspiegelei, vielmehr eine eigenartige Mischung von existentiellem Denken und Dadaismus, mit der Ulrichs nicht zuletzt dank stringenter Ausprägung und Qualität seines Werks ziemlich einzigartig in der zeitgenössischen Kunst dasteht. […] Durch den Elektromotor, mit dem er seine Magdeburger Erdachse in Rotation versetzen lässt, hat Timm Ulrichs aus dem „Kreisel Gottes“ ein menschliches Spielzeug gemacht. Wenn die Stromzufuhr unterbrochen wird, steht es still, vermutlich ohne dass es sofort jemand bemerken würde. (N. Eisold)